Zweite Pubertät: Über Sinnsuche und Neustart
Die 50 empfand sie als Zeitenwende. Das äußerliche Älterwerden fand sie schwierig und in ihrem Umfeld platzten lauter kleine Beziehungsbomben. Dann kam der Bandscheibenvorfall. Im Interview erzählt die Stuttgarter Verlegerin Petra Kiedaisch, warum sie ein Buch über den Umbruch in der zweiten Lebenshälfte geschrieben hat.
Das Gespräch mit Petra ist für mich gleich dreimal spannend. Zum einen, weil wir uns seit der Schulzeit kennen und schon unsere erste Pubertät gemeinsam erlebt haben. Zum anderen, weil mich das Thema Älterwerden, genau wie Petra, persönlich betrifft und beschäftigt. Und zum dritten: Für einen Blog über Bücher und Schreiben ist eine Verlegerin, Herausgeberin und Autorin als Gesprächspartnerin das pure Glück.
Liebe Petra, dein Buch heißt 45 +, ein Buch über eine Umbruchszeit, über die zweite Lebenshälfte. Du schreibst, die Zeit um den 50. Geburtstag war für dich ein Wendepunkt. Was ist da passiert?
Zunächst mal fühlte ich mich nicht wohl mit der 50. Mit 49 habe ich ein bisschen Panik bekommen, weil ich dachte: Mein Leben ist auf einem Höhenpunkt. Es war ein Flow – und ich wollte einfach, dass es so bleibt. Mir war klar, dass die 50 eine Art Abstieg werden könnten. Ich weiß nicht, ob es Zufall war: Aber dann kam der Bandscheibenvorfall, der mich körperlich ein Jahr lang komplett eingeschränkt hat.
Das blieb, wie du in der Einleitung erzählst, nicht das einzige…
Genau. Im gleichen Jahr wurden meine beiden Eltern pflegebedürftig. Und im Freundes- und Bekanntenkreis sind viele kleine Bomben geplatzt. Paare, von denen ich dachte, sie seien „Power-Couples“ und sie bleiben für immer zusammen, haben sich auf einmal getrennt. Verheiratete Männer haben mit jüngeren Frauen Kinder bekommen. Freundinnen waren in ihrem Beruf unzufrieden und wollten Yogalehrerin oder Coach werden. Es kamen also noch Sinnfragen hinzu. Irgendwann war ich mit meinem Latein am Ende.
Warum war das so ein Problem für dich?
Ich bin ein sehr strukturierter Mensch und habe immer einen klaren Plan. Von 30 auf 40 hatte ich jedenfalls noch einen. Von 40 auf 50 grade noch so. Aber dann, mit 50, plötzlich keinen mehr.
Wie bist du damit umgegangen?
Irgendwann hat eine Freundin gesagt: ‚Jetzt hör‘ auf zu klagen, wir gehen doch alle da durch‘. Dann war Pandemie, ich hatte Zeit und habe eine Ausbildung als psychologische Beraterin angefangen. Dort habe ich gelernt, wie man mit Situationen umgeht, in denen man mit seiner jetzigen Charakterstruktur oder Persönlichkeit nicht mehr weiterweiß.
Deine Zielgruppe, Menschen zwischen 45 und 65, fasst du unter „späte Babyboomer und Gen X“ zusammen. Gehen wir – die in den 1970er und 80er Jahren Aufgewachsenen – anders mit dem Altern um als die Generationen vor uns?
Der soziologische Ansatz der Generationen passt hier nicht ganz. Es gibt Boomer, die denken sehr fortschrittlich und gehen konstruktiv mit dem Älterwerden um. Und dann gibt es eher Konservative, die sich ganz in ihrer Generation verorten und darauf pochen, dass sie jetzt, bitte schön, in Rente gehen und das Leben aber so weitergehen soll wie bisher. Die sich einfach mit Veränderungen schwertun. Und bei den Gen Xern ist es genauso. Ich meine also eine Schnittmenge. Welche Probleme bei den einzelnen auftauchen, ist immer individuell. Das kann man nicht mit einem Ratgeber lösen.
Das war ja auch nicht dein Anspruch…
Nein, gar nicht. Mir ging es darum, Türen zu öffnen. Meinen Lesern klarzumachen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind und wohin sie sich wenden können. Es gibt viele Tabus, Themen, die man auch mit Freunden und Freundinnen nicht besprechen kann. Auch wenn unsere Generation gelernt hat, offen zu sein.
Ändert sich das nicht gerade? Meinem Empfinden nach gibt es im Netz mittlerweile Austausch über die intimsten Dinge.
Da steckt auch die Demografie dahinter. Wir sind tatsächlich ein Drittel der Deutschen. Das ist verdammt viel. Das wird jetzt wie eine Welle kommen, dass nicht nur Frauen und Wechseljahre ein Thema sind, sondern, dass unsere Gesellschaft an sich in den Wechseljahren ist. Deswegen werden diese Tabus von Tag zu Tag öffentlicher.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Neulich gesehen: In einem Spot auf dem besten und teuersten Werbeplatz, kurz vor der Tagesschau, sitzen fünf Frauen zusammen und sprechen über Gleitcreme und Hormonersatztherapie. Bis vor ein, zwei Jahren undenkbar. Ein weiteres Indiz: Ich habe versucht, einen Experten oder eine Expertin für das Thema Sexualität und Sinnlichkeit ab 45 für mein Buch zu bekommen. Ich habe bei sämtlichen bekannten Sexualtherapeuten und -therapeutinnen der Republik angefragt. Alle waren komplett überlastet und unter Vertrag mit anderen Dingen: Einem eigenen Buch, einem Podcast.
Das ist doch eine positive Entwicklung….
Ja. Aber in der nächsten Auflage meines Buchs will ich das Thema drin haben.
Philipp Roth hat in seinem Roman „Jedermann“ einen berühmt gewordenen Satz geschrieben: „Das Alter ist kein Kampf. Das Alter ist ein Massaker“. Er erzählt von endlosen Verlusten. Ich habe dieses Buch vor etwa zwanzig Jahren gelesen und war sehr erschrocken. Kann mir dein Buch die Altersangst ein wenig nehmen?
Roth schreibt ja Belletristik und wir sind hier im Sachbuchbereich. Mein Buch ist ein Ratgeber. Ja, ich habe die Erfahrung von Verlust auch gemacht, wollte sie aber ins Konstruktive wenden. Ein Umstand, den ich zum Beispiel total unterschätzt habe, ist, dass unser Älterwerden so sichtbar wird, dass ich mich selbst neu verorten musste.
Wie meinst du das?
Ich mache sehr viel am Abend: Vernissagen oder ehrenamtliche Events, wo ich auf Frauen treffe, die vielleicht 30 oder 40 sind. Und man merkt auf einmal: Diese Frauen behandeln mich wie „Die Ältere“. Das war für mich neu und fand ich irgendwie komisch. Überhaupt das äußerliche Älterwerden. Ich habe mich nie über mein Aussehen definiert. Aber ich will auch nicht NICHT mehr gesehen werden.
Und wie schafft man es, als mittelalte oder ältere Frau nicht unsichtbar zu werden?
Ich wollte für mich einen Weg finden, mit meiner verbleibenden Lebenszeit umzugehen, ohne ständig vor Selbstmitleid schlechte Laune zu haben. Weil ich einfach ein positiver, konstruktiver Mensch bin. Ich möchte einen Plan haben, möchte mich auf etwas freuen können und neue Ziele haben. Deswegen habe ich für mein Buch dieses Expertenteam zusammengestellt. Weil ich wissen wollte, wie gehen denn die in ihrem jeweiligen Fachgebiet mit diesem Thema um.
Ich habe in deinem Buch einiges gelernt, was ich noch nicht wusste. Etwa, im Kapitel „Philosophie“ über das Konzept einer biografischen Heimat und der Sehnsucht nach dem Gefühl, etwas zum ersten Mal zu tun. Was hast du Neues von deinen Experten gelernt?
Dass uns alle ganz zentrale Fragen umtreiben. Es geht nicht nur um die berühmte „Bucket List“, sondern um Sinnfragen. Wo ist meine Heimat? Wie gehe ich durch mein weiteres Leben? Dazu muss ich eine Haltung haben oder finden. Aus dem Beitrag der Psychologin habe ich gelernt, dass man mit seinem Schicksal nicht hadern sollte, sondern sich auch Fehler eingestehen kann, krumme Wendungen im Leben annehmen muss, nicht ständig Versäumtem nachtrauern. Zu akzeptieren: Egal, wie ich an den Weggabelungen abgebogen bin, das ist mein Leben.
Und ganz praktisch?
Da habe ich von allen etwas gelernt. Gerade das habe ich ja so vermisst. Dass mir jemand sagt: Diese Untersuchungen brauchst du, diese Dokumente, diese finanziellen Überlegungen sind sinnvoll. Das Buch ist auch mein eigenes Instrumentarium fürs Älterwerden.
Im letzten Kapitel geht es um Glauben und Religion, ein Pfarrer kommt zu Wort. Warum war dir das wichtig?
Ich selbst bin ja nicht gläubig und auch nicht mehr in der Kirche. Ich wollte Spiritualität trotzdem als Thema im Buch haben, aber das ist schwer fassbar, weil es ja so viele Formen gibt. Es gibt zwei Momente, in denen ich gemerkt habe, Glaube darf nicht fehlen. Zum einen weiß man, dass Menschen auf der ganzen Welt in Krisensituationen im Glauben Halt finden und dass deren Resilienz sich aus dem Glauben an etwas Göttliches speist. Das nutzt auch die Psychologie, zum Beispiel begleitend in einer Therapie. Und zum zweiten, das habe ich auch mit meinen Eltern erlebt: Wenn es dem Ende zugeht und einem die Endlichkeit bewusst wird oder man mit einer Krankheit nicht klarkommt, dann hadert man ungemein und sucht Hoffnung im Jenseits.
War dieses Buch für dich ein Herzensprojekt und vielleicht auch ein Projekt der zweiten Lebenshälfte, dass du unbedingt verwirklichen wolltest?
Ein Herzensprojekt auf jeden Fall, aber nicht, weil ich unbedingt ein Buch schreiben wollte. Ich bin eine passionierte Herausgeberin. Ich kann sehr gut Menschen zu einem Thema zusammenbringen. Das habe ich schon in meiner wissenschaftlichen Zeit, vor meiner Arbeit bei avedition gemacht. Ich habe Beiträge geschrieben oder Regie geführt. Und dann auch bei avedition im eigenen Programm immer mal wieder etwas herausgegeben. Bei 45+ war mir klar: Ich will dieses Buch nicht komplett schreiben, sondern ich brauche Profis.
Wie läuft so ein Entstehungsprozess ab? Wie viel Vorlaufszeit hatte das Buch?
Ein Jahr für die Konzeption. Ein Jahr für das Suchen und Finden der Experten und das Sammeln der Texte. Und das dritte Jahr für die Verlagssuche. Neu war, dass ich das ganze Buch schon im Kopf hatte. Ich wollte ein Raster haben. Ich wollte einen bestimmten Stil haben. Ich habe ein Autoren-Sheet angelegt, da stand genau drin, wie zu schreiben ist, wie lange die Absätze sein dürfen und dass ich keine Fußnoten haben will.
So kenne ich dich: Extrem strukturiert und durchgeplant.
Ja, ich weiß, ich bin ein Strukki (lacht). Ich wollte auch, dass die Leser schon im Inhaltsverzeichnis sehen, aha, in diesem Kapitel werde ich abgeholt. Ich wollte alle Triggerworte dort drin haben und habe allen Experten meine Vorschläge für diese Worte mitgeschickt. Ich hatte ja recherchiert und wusste, wo’s wehtut. Die Inhalte sind natürlich komplett von den Experten. Aber formal habe ich strenge Anweisungen gegeben. Auch mit den Checklisten am Ende der Kapitel. Für manche war das schwierig. Es war eine eher untypische Herausgeberschaft.
Was war dir abgesehen von den Formalien noch wichtig?
Dass alle Profis ihres Faches sind. Ich kam bei der Recherche auf viele Wissenschaftsjournalisten, das sind meist studierte Geisteswissenschaftler. Ich wollte aber keine Rat gebenden Halbprofis, sondern Experten, die ihr Fach studiert und schon publiziert haben und sich dadurch unakademisch ausdrücken können.
Du bist jetzt als Autorin, die bei einem anderen Verlag als dem eigenen publiziert. Wie fühlt sich das an?
Für mich ist das neu. Ich bin so gespannt und ruf oft beim Verlag an und frage: Wie laufen die Verkäufe? Wann kommt die nächste Besprechung. Also genau das, was die Autoren sonst bei mir im Verlag machen. Ich bin jetzt auf der anderen Seite. Das ist eine schöne Erfahrung. Sehr aufregend.
Wie sieht der Markt für Ratgeber und Sachbücher zurzeit aus?
Der Ratgeber-Markt gilt als extrem schnelllebig. Am besten bist du als Autorin auch gleich Influencerin mit einer Million Followern. Promis können gut erfolgreich Ratgeber machen. Ansonsten ist es ein hart umkämpfter Markt, aus dem man schnell wieder verschwindet. Es zählen Auflage und Schnelligkeit.
Du hast dein Buch untertitelt mit „Ein Ratgeber für die Zweite Pubertät“, im Buch aber gleich geschrieben, dass „Zweite Pubertät“ kein Fachbegriff ist, sondern plakativ gemeint. Da wir beide uns seit der Kindheit kennen und auch die Pubertät gemeinsam erlebt haben, eine für mich spannende Frage: Welche der beiden Umbrüche war für dich schwerer?
Die erste Pubertät war auch schwierig, aber ich wusste damals, wo ich hinwollte. Ich wollte Germanistik studieren, ich habe nicht mit der Welt gehadert. Vielleicht habe ich mit meinem Körper gehadert, aber ich hatte einen Plan. Die Bücher waren meine Welt, da konnte ich alles ausleben. Die zweite Pubertät hat mir wesentlich mehr zugesetzt. Jetzt hatte ich schon alle Bücher gelesen – und war trotzdem am Ende meiner Weisheit.
Ein weiterer Untertitel lautet: Tipps und Strategien für ein gelungenes Älterwerden. Deswegen meine letzte Frage: Welche drei für dich wichtigsten Tipps sollten wir alle beim Älterwerden beherzigen?
Erstens: Anpacken. Nicht zweifeln, nicht hadern. Anpacken. Zweitens: Nach vorne schauen und Neues entdecken. Also die Neugierde wieder ins Leben lassen und aus der Routine ausbrechen. Und drittens: Auf die Gesundheit achten.
Danke, liebe Petra, für das schöne Gespräch ♥️
Autorin
Petra Kiedaisch ist Verlegerin, Herausgeberin und psychologische Beraterin. Geboren 1967, steckt sie selbst mitten in der Zweiten Pubertät. Sie hat Germanistik, BWL und Literaturvermittlung studiert und in Neuerer Deutscher Literaturgeschichte promoviert. 2014 hat sie den Stuttgarter Verlag avedition als geschäftsführende Gesellschafterin übernommen (Foto: Jan Reich)
Buch
Dr. Petra Kiedaisch (Hg): 45 + Ein Ratgeber für die Zweite Pubertät. Tipps und Strategien für ein gelungenes Älterwerden. Hirzel Verlag, 2024, 224 Seiten, 24 Euro.
Hier gibt es mehr Infos zum Buch, einen Blick ins Inhaltsverzeichnis & eine Leseprobe
Und hier geht’s zu Petras Website mit den Terminen zu Lesungen.
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