Sachbücher im Herbst: Zukunft, Realität und kreatives Sein

Sachbücher im Herbst: Zukunft, Realität und kreatives Sein

Die Zukunft selbst gestalten, statt sie einfach nur geschehen lassen: Dafür plädiert Florence Gaub in ihrem Buch „Zukunft. Eine Bedienungsanleitung“. Der britische Autor Oliver Burkeman erklärt uns, warum er positives Denken für komplett überbewertet hält. Und es gibt gesammelte Lebensweisheiten von Ikone Rick Rubin.  

 

Buchcover: Zukunft von Florence Gaub

Zukunft: Aufbruch ins Unbekannte

Die Zukunft als ein unentdecktes Land: Mit einem Zitat aus Star Trek VI beginnt Florence Gaub ihre Bedienungsanleitung für die Zukunft. Und macht gleich klar: Für die meisten Menschen ist Zukunft etwas, das passiert, nicht ein Raum, den sie gestalten. Zukunft –  das ist derzeit ein ziemlich düsterer Ort, an dem Krisen und Verwerfungen warten.

Und einer, dem niemand viel Beachtung schenkt: Schon in der Schule stehe rückwärtsgerichtetes Wissen auf dem Lehrplan, nicht zukunftorientiertes, stellt Gaub fest: Latein und Geschichte statt Weltraumforschung.

Die Zukunft ist das, was du daraus machst
Doc Brown, Zurück in die Zukunft III (1990) 

Wissenschaft: Die Entdeckung der Zukunft

Von hier aus beginnt die Politikwissenschaftlerin und Militärstrategin ihre Fahrt ins Unbekannte, aber auch sie reist zunächst zurück in Geschichte, Philosophie und die Entdeckung der Zukunft, wie wir sie kennen: Ins 17. Jahrhundert.

Denn die Geburt der Wissenschaft und das Wissen von Ursache und Wirkung nahm damals die Verantwortung für unsere Zukunft aus der gottgegebenen Ordnung heraus und legte sie uns in die eigenen Hände.

Seither können wir uns die Zukunft nicht mehr nur vorstellen. Wir können sie planen und beeinflussen.

Tagträume: Die Macht des Vorstellungsvermögens

Was die Zukunft mit Tagträumen und dem gregorianischen Kalender zu tun hat und wie Katastrophen- und Wunschdenken unsere Zukunft beeinflussen, erzählt Florence Gaub anhand unterhaltsamer Fakten und Anekdoten aus Geschichte, Neurowissenschaften, Psychologie und Sozialwissenschaften.

Zumindest reißt sie diese an. Mehr ist auf knapp 200 Seiten nicht zu schaffen. Auch als Hörbuch zu empfehlen, Florence Gaub liest selbst.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Florence Gaub: Zukunft. Eine Bedienungsanleitung. dtv Verlagsgesellschaft, 2023, 188 Seiten, 20 Euro

 

 

Warum sich die Zukunft nicht beherrschen lässt

Das Buch des Journalisten und Autors Oliver Burkeman „Das Glück ist mit den Realisten“ knüpft sich ebenfalls die Zukunft vor – kommt allerdings zu völlig anderen Ergebnissen. Im Kapitel „Zielbesessen“ erklärt der Brite, warum sich die Zukunft gerade nicht beherrschen lässt.

Zielsetzung: Sinnvolle Planung oder gefährliche Illusion?

Ein Allzeit-Erfolgs-Rezept von Businessratgebern und Selbstoptimierungs-Gurus ist das „Zielesetzen“. Doch was, wenn Zielbesessenheit genau ins Gegenteil umschlägt?

Burkeman erläutert diesen Effekt anhand der Katastrophe, die sich 1996 am Gipfel des Himalayas ereignet und acht Bergsteigern das Leben gekostet hat. In einem „Ausbruch von Unvernunft“, wie Burkeman es nennt, ließen die 30 Gipfelstürmer, die an diesem Tag losmarschierten, ihre festgelegte Umkehrzeit verstreichen als sich auf dem schmalen Grat ein Stau bildete.

Ihre Zielbesessenheit, den Gipfel erreichen zu müssen, wurde zur tödlichen Falle. „Eine Überinvestition in Ziele“, der wir uns aussetzen, um die Ungewissheit der Zukunft besser zu ertragen, so Burkeman.

Positives Denken macht nicht unbedingt glücklich

Diese Ungewissheit treibt uns auch in die Arme von Motivationstrainern und Ratgeber-Autoren, die behaupten, wir müssten uns auf unsere positiven Gedanken und Gefühle konzertieren, um glücklich zu werden.

Warum der Autor daran nicht glaubt, erläutert er an anschaulichen Beispielen, peinliche Selbstversuche in der Londoner U-Bahn eingeschlossen.

Die Stoiker kommen ebenso zu Wort wie Einwohner eines Slums in Kenia, die laut einer Studie weit weniger depressiv sind als privilegierte Bewohner schicker Appartements an der New Yorker Upper East Side.

Das liege daran, vermutet Burkeman, dass die Kenianer schon aus purer Notwendigkeit tiefere Beziehungen zu ihren Angehörigen und Nachbarn pflegten.

Pessimismus ist, hat man sich erst daran gewöhnt, genauso angenehm wie Optimismus. 
Arnold Bennett, Schriftsteller

Von der Realität positiv überraschen lassen

Tiefe Beziehungen machen glücklich. Allerdings gingen diese immer mit Kontrollverlust und Verletzlichkeit einher.

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung machte Burkeman klar: „Wer eine tiefe Beziehung erleben möchte, muss offen sein für mögliches Unglück, anders geht es nicht“.

Er spricht sich für eine negative Visualisierung aus. So kann mach sich – im besten Fall – von der Realität positiv überraschen lassen.

Einen kleinen Blick ins Buch gibt es hier.

Oliver Burkeman: Das Glück ist mit den Realisten, Piper, 2023, 288 Seiten, 22 Euro

 

Buchcover: Rick Rubin: Kreativ. Die Kunst zu sein.

 

Musikproduzent gibt spirtuelle Empfehlungen

Rick Rubins Buch ist schon im April erschienen, kein Grund, es nicht noch im Herbst zu lesen. Der 1963 geborene US-amerikanische Musikproduzent arbeitet mit den ganz Großen, darunter Adele, Aerosmith, die Red Hot Chili Peppers, Jay Z und Johnny Cash, U2, Metallica und Mick Jagger.

Und er sieht aus wie einer, dem man seine spirituellen Lebensweisheiten abnimmt: Langes, wallendes Haar, langer, weißer Bart, durchdringender Blick.

Sein Buch „kreativ. Die Kunst zu sein“ ist kein Ratgeber, in dem es um Kreativitätstechniken oder konkrete Anleitungen zum kreativen Schaffen geht. Der Meister setzt mit seinen Empfehlungen früher an: In uns und unserer Einstellung, derzeit Mindset genannt.

Zwischen Kalenderspruch und Wahrheit

Durchzogen sind seine Einsichten von fernöstlicher Philosophie und spirituellen Gedanken, die zwischen lauen Kalendersprüchen und tiefen, nachhallenden Weisheiten schwanken.

Etwa hier: „Welches Werkzeug du auch immer für den schöpferischen Vorgang nutzt, das wahre Instrument bist du selbst. Und durch dich wird das Universum, das uns umgibt, klar erkennbar“.

Mit eindringlicher, bildhafter Sprache

Wer für diese Art des spirituellen Inputs empfänglich ist, wird Freude an dem Buch haben. Ich selbst, vollkommen unesoterisch, habe es als Hörbuch während meiner Hundespaziergänge im Wald gehört.

Für jede Idee gibt es eine rechte Zeit. Und jede findet ihren Weg, um sich durch uns auszudrücken.
Rick Rubin, Musikproduzent

So konnte ich mich ganz gut auf Rubins Gedankenreisen einlassen, die oft an die Worte während einer Yogapraxis erinnern. Rubin zeichnet den Weg des Künstlers in einer einfachen, aber eindringlichen, bildhaften Sprache nach, die zum Weiterdenken inspiriert.

Allein Rubins Rat, bei einer Blinddarmentzündung auf die eigene Intuition und nicht auf den Rat der Ärzte zu hören, sei hier keinesfalls weiterempfohlen.

Hier kann man schon mal reinlesen. 

Rick Rubin: kreativ. Die Kunst zu sein. O.W. Barth, 2023, 416 Seiten, 24 Euro

Eine Zeitreise in die Neunziger: Buch-Tipp im August

Eine Zeitreise in die Neunziger: Buch-Tipp im August

Bitte anschnallen und das Rauchen einstellen. Unsere Zeitkapsel landet in wenigen Sekunden im Jahr 1989. Wir befinden uns in der Mohrenstraße in Ostberlin, im Internationalen Pressezentrum der DDR. Es ist der 9. November und Günter Schabowski wird mit seinem bekannten Halbsatz: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“, das Ende der DDR einläuten.

 

Sprung in die Zukunft: Das Raum-Zeit-Empfinden ändert sich

Von diesem Moment an ändert sich das Raum-Zeit-Empfinden. So beschreibt es Jens Balzer im ersten Kapitel von „No Limit. Die Neunziger. Das Jahrzehnt der Freiheit“. Die Zeit beginnt zu rasen. Räume öffnen sich. Der endlose Wachtraum, der Dornröschenschlaf, in dem sich die DDR seit Beginn der 1980-er Jahre befunden hat, endet abrupt. Weicht einer neuen Dynamik, einem rasenden Wandel. Ein neues Zeitalter beginnt.

 

Mauerfall und einstürzende Türme

Und es endet, so Balzer im letzten Kapitel des Epochenritts, am 11. September 2001 in New York City.  Am Anfang der Mauerfall, am Ende einstürzende Türme: In diese zeitliche und historische Klammer setzt der 1969  geborene Autor seine lesenswerten Reisen durch die Dekade. No Limit: Der Titel ist angelehnt an den gleichnamigen Song von „2 Unlimited“ aus dem Jahr 1993 und gleichzeitig eine Anspielung auf die fallenden Grenzen in Europa, die das Jahrzehnt politisch und gesellschaftlich umwälzen.

Soundtrack der Freiheit: Techno und Weltschmerz

„Das Jahrzehnt der Freiheit“, wie das Buch im Untertitel heißt, feiert die Individualität, das Arschgeweih, Baywatch und die Spice Girls. Im Hintergrund rauscht der Soundtrack der Epoche: Der kollektive Beat des Techno, Nirvanas Hymnen an den Weltschmerz, Fanta-Vier-Deutschrap, die Synthesizer des Eurodance.

Mehr als nur Nostalgie: Der Preis der Freiheit

Wer ein warmes Bad in Nostalgie erwartet, wird allenfalls bedingt bedient. Freiheit hat ihren Preis: Balzer beschreibt die politischen und gesellschaftspolitischen Verwerfungen in Deutschland, Europa und weltweit ausführlich und lässt uns Leser auch an seiner Haltung dazu teilhaben.

 

Die Neunziger wirken bis in die Gegenwart hinein

Wer dabei war, wird sich dennoch gerne an all das erinnern lassen, was in den 90ern begann und bis in die Gegenwart hineinwirkt: Optimierungskult und Schönheitswahn, Privatfernsehen, Serien, Mobiltelefone und das World Wide Web.

 

Paradigmenwechsel im Schreiben: Befreiung aus dem Linearen

Für Schreibende spannend: In Kapitel 11 zeichnet Balzer nach, wie die damals neuen Textverarbeitungssysteme unser bis dahin lineares, analoges Schreiben revolutionierten.  Musste bislang ein Text bis ins Kleinste vorgeplant oder Satz für Satz konzentriert, logisch-linear und der Reihenfolge nach auf der Schreibmaschine heruntergetippt werden, hält nun kreatives Chaos Einzug in den Schreibprozess. Fortan lassen sich problemlos Buchstaben, Worte, Sätze und ganze Absätze verschieben, löschen, verändern, neu zusammensetzen. Texten hieß zuvor: Linear denken. Aber unser Denken fühle sich, vermutlich, in nicht-linearen Formen viel wohler, schreibt Balzer. Die Neunziger haben unser Schreiben und Denken aus dem Gefängnis der Linearität befreit. Das Jahrzehnt der Freiheit und der fallenden Grenzen bekommt für Schreibende damit eine ganz eigene Bedeutung.

Fazit: Nicht nur für Zeitzeugen

„No Limit“ ist ein dichter und sprachlich kluger kulturhistorischer Abriss eines Jahrzehntes, den ich, wie die beiden Vorgänger – „High Energy“ über die Achtziger und „Das entfesselte Jahrzehnt“  (Siebziger) – gerne gelesen habe. Für alle, die die Neunziger bewusst erlebt haben, fügt er historische und kulturelle Linien und Muster zu einem lesenswerten, plausiblen Ganzen zusammen. Für alle anderen ist er eine Zeitkapsel-Reise in eine vielleicht noch unentdeckte Vergangenheit.

 

Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger. Das Jahrzehnt der Freitheit. 384 Seiten. Rowohlt, 2023

Leseprobe

 

Eine Ode an das Meer: Buch-Tipp im Juli

Eine Ode an das Meer: Buch-Tipp im Juli

Buchcover von

Eine Ode an das Meer

„Wenn mein Buch über das Meer poetisch ist, dann nicht, weil ich es bewusst so geschrieben hätte, sondern weil niemand wahrhaftig über das Meer schreiben kann, wenn er die Poesie dabei auslässt“. (Rachel Carson)

Ich liebe das Meer. Und ich liebe Bücher über das Meer. Auf meinem Urlaubslektüre-Stapel lag deswegen auch Richard Hamblyns Buch „Das Meer“, Untertitel: „Wie wir ihm seine Geheimnisse entlocken. Und es doch nie verstehen werden.“ Gelesen habe ich es am Strand, in jeder Lesepause das Türkisblau der Adria vor Augen.

Hamblyn nimmt uns mit auf eine poetische Reise über die Wellen und durch die Kulturgeschichte, zu Meeresungeheuern, Matrosen, Musik, Malerei.

Von Mythen, Monstern und Musik

„Das Meer“ verbindet sorgfältig recherchierte wissenschaftliche Fakten mit künstlerischen Ausdrucksformen und menschlichen Erfahrungen rund um eine der größten Geheimnis unseres Planeten.

Wir begegnen dem einsamsten Wal des Ozeans, Riesenkalamaren, und Bruce, dem mechanischen Monster aus Steven Spielbergs „Der weiße Hai“. Wir tauchen ein in vom Meer inspirierte Kunst, Musik, Filme und Literatur. Wir lernen die Sprache des Ozeans und das moderne SeaSpeak auf den Containerschiffen kennen. Und wir erfahren, warum die Matrosen auf Handelsschiffen Shantys sangen – und wie wichtig ihre Gesänge für den Alltag an Bord war.

Gesang, Sprache und Seefahrt

Abenteuerliche Entdeckungsreisen, uralte Handelswege, Navigation, Schiffbruch, Aberglaube: Hamblyn schöpft aus der ganzen Fülle an Themen, die die Ozeane für uns bereithalten. Dabei erzählt er unterhaltsam und genau, in Geschichten und Anekdoten, verwandelt die vielen sachlichen Informationen in eine gut lesbare, anschauliche Lektüre.

Nachdenkliche Schlussworte

Im Nachwort fordert der er den Schutz der Meere ein, für die das 20. Jahrhundert eine einzige, menschengemachte, Katastrophe war, von der Überfischung über die Verschmutzung mit Chemikalien und Plastik bis zur Erwärmung durch den Klimawandel. Er plädiert dafür, die Ozeane als weltweite Schutzzone anzuerkennen. So würden die Menschen vielleicht lernen,  ihren Wert und ihre fragilen Ökosysteme zu schätzen und Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen.

Fazit

Wunderschön illustriertes Sachbuch, dem man allein der Bilder wegen ein größeres Format gewünscht hätte.  Informative Sommerlektüre, besonders geeignet für einen Urlaub am Meer.

Richard Hamblyn: Das Meer. Wie wir ihm seine Geheimnisse entlocken und es doch nie verstehen werden, Knesebeck, 272 Seiten, 22 Euro

 

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