Schreiben über das Schreiben? Ja, das geht – in einer Blogparade. Ich nehme die wunderbare Idee von Anna Koschinski auf, über das Schreiben zu schreiben (den Link zur Blogparade gibt es hier). Eine schöne, persönliche Schreibaufgabe, aber keine einfache. Wo fange ich an?
Vielleicht an einem Tag vor vielen Jahren.
Der Haiku-Tag: Lektionen in Demut
25 angehende Redakteure im Volo-Kurs der Presse-Akademie. Hinter uns liegen zwei Wochen klassische Journalisten-Ausbildung im Jahr 2001: Reportage, Gerichtsbericht, Layout, Presserecht, Bildauswahl, Theaterrezension, Kommentar und Glosse.
Für den letzten Tag steht „Kreatives Schreiben“ im Seminarprogramm. Wir sind alle erschöpft und leergeschrieben und freuen uns auf einen wenig anstrengenden Tag mit einem netten Thema.
In den Raum tritt ein älterer, etwas zerzauster Mann. Ich ahne noch nicht, dass er mein künftiges Schreiben mehr beeinflussen wird als jeder andere der Lehrer und Dozenten.
Wir werden an diesem Tag acht Stunden lang nichts anderes machen als Haikus schreiben.
Ein Haiku ist ein klassisches japanisches Gedicht. Die kürzeste Gedichtform, die es gibt. Extreme Verdichtung. Extreme Konzentration. Die Essenz eines Gefühls, einer Landschaft oder eine Sache in drei Zeilen. Fünf Silben in der ersten Zeile, sieben in der zweiten und fünf in der dritten.
Hier geht es ums Schreiben an sich
25 angehende Redakteure stöhnen. Uns dämmert, dass dieser letzte auch der anstrengendste Tag des Kurses werden wird. Wir sind es gewohnt, schnell gefällige, einfach lesbare Texte herunterzuschreiben.
Das hier ist etwas anderes. Hier geht es um das Schreiben an sich. Auch um unsere Einstellung zum Schreiben. Die Haikus fordern uns stärker als jede andere Schreibaufgabe im Kurs.
Wenn wir nicht Haikus schreiben müssen – und wir sind dankbar für jede Pause – zerpflückt der Seminarleiter unsere eingereichten Beiträge. Angewidert liest er Sätze aus unseren Zeitungsartikeln vor, spuckt uns Füllwörter und Adjektive entgegen, macht sich über Floskeln und Synonyme lustig.
Sechs Learnings: Die Macht der Worte
Was ich an diesem Tag lerne:
- Worte haben Macht.
- Jedes Wort zu viel ist ein Wort zu viel.
- Verben sind die Stars unter den Worten. Investiere deine Zeit in die Suche eines passenden Verbs.
- Füllwörter, Floskeln, ausgetretene Bilder, Sprichworte, Adjektive oder Gemeinplätze machen Texte schlecht, langweilig und austauschbar.
- Journalisten haben die verdammte Pflicht, sprachlich gute Texte zu schreiben.
- Was immer du tust, benutze niemals ein Synonym-Lexikon.
Bewusster schreiben
Natürlich benutzte ich weiterhin Füllwörter und Adjektive. Aber ich reduzierte sie, dachte beim Schreiben darüber nach, welches Wort mein Satz wirklich braucht und ob ich nicht auf die Schnelle noch irgendwo ein cooles Verb auftreibe.
Texte, die konsequent nach der „Haiku-Methode“ geschrieben werden, lesen sich oft pathetisch, schwer, tragend, gekünstelt. Heute schreiben wir anders, mehr, wie wir sprechen: Leichter, alltagstauglicher, weniger von oben herab.
Aber: Der Haiku-Tag hat etwas Grundsätzliches an meinem Schreiben geändert.
Schreiben im Umbruch
Schreiben ist heute im Umbruch. In einem äußeren und für mich persönlich in einem inneren.
Der äußere Umbruch zeichnet sich schon seit vielen Jahren ab, begann mit Internet und sozialen Medien und gipfelt jetzt im Schreiben der Chatbots, der Künstlichen Intelligenz. Dieses Thema treibt mich um und ich schreibe auch regelmäßig darüber. Schreiben mit KI ist ein tiefer Einschnitt in unsere Kulturgeschichte, in unsere Art zu lernen und zu denken.
Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter
Schreib- und Lesekonventionen haben sich stark verändert. Wir lesen heute anders, scrollen an Texten entlang, scannen nur einige Worte, bleiben mit unserer Aufmerksamkeit an schnell zu erfassenden Bullet Points und an Bildern oder Videos hängen.
Algorithmen als neue Leserschaft
Wir optimieren unsere Texte nicht mehr danach, ob sie sprachlich und stilistisch ausgefeilt sind, ob sie unsere Fantasie beflügeln, ob sie klug oder kreativ sind, ob ihre Worte andere Menschen berühren.
Wir optimieren sie mit immer feineren Methoden hin zu einem einzigen, übergeordneten Ziel: Dass der Algorithmus eines US-Konzerns sie indiziert und optimal ausspielt.
Andere Worte, neue Regeln
Geändert haben sich auch der Ton und mit ihm die Sprache, die sich geschrieben dem Gesprochenen angenähert hat, andere Worte nutzt, neue Regeln festgelegt hat.
Was ich in meiner Journalistenausbildung gelernt und viele Jahre praktiziert habe, gilt nur noch teilweise. Aber das sehe ich, wie jede Veränderung, als eine Chance.
Mein persönliches Schreiben
Der innere Umbruch ist vergleichsweise banal. Als Redakteurin habe ich beruflich geschrieben und damit mein Geld verdient. Jetzt schreibe ich unter anderem einen Blog und muss aus der professionellen Distanz auf eine persönliche Ebene wechseln, die mir manchmal schwerfällt.
Struktur mit Journaling
In meinem persönlichen Schreiben profitiere ich davon, dass ich vor einigen Jahren mit dem Journaling angefangen habe. Ich nutze es zum Planen, es hilft mir, meinen Tag und meine Arbeit zu strukturieren.
Ein Gamechanger für alle, die sich gerne mal verzetteln. Ich nutze Journaling auch zur Reflexion. Und manchmal einfach dazu, um mir etwas Aufwühlendes von der Seele zu schreiben.
Ein Zimmer für mich allein
Ich liebe dieses einfache, analoge Tool. Es ist ein Zimmer für mich allein, ein Ort, an den ich immer gehen kann, den ich nach meinen Wünschen einrichte und der nur mir gehört.
Schreiben als Wissenschaft
In meiner Fortbildung zur Schreibberaterin habe ich mich im vergangenen Jahr zum ersten Mal mit Schreibforschung und bewusst mit meinem eigenen Schreiben auseinandergesetzt. Wie schreibe ich? Was für ein Schreibtyp bin ich? Wo habe ich Blockaden? Wie ist meine Schreibbiografie und was kann ich aus ihr lernen?
Jeder, der professionell schreibt, profitiert davon, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Sie sind auch Teil der Schreibberatung, die ich anbiete.
Ich lerne viel Theorie. Ich lerne Schreibstrategien kennen. Konzepte. Was eine „authentische Schreibaufgabe ist“ (eine Aufgabe, die vom Schreibenden als sinnvoll empfunden wird) und wie wichtig das für unsere Motivation und die Qualität des Textes ist.
Lernen, während wir schreiben
Lange geht es um das Prinzip „Writing to learn“. Der Hintergrund dieses Ansatzes ist spannend. Er stützt sich auf die Erkenntnis, dass unsere Gehirn Informationen effektiver verarbeitet, wenn es aktiv in den Lernprozess einbezogen wird.
Beim Schreiben passiert genau das: Wir empfangen nicht nur passiv, sondern erschaffen und reflektieren im Schreibprozess aktiv. Das schärft unser Denken und ermöglicht es, komplexe Ideen in eigenen Worten zu erklären, was wiederum das tiefe Verständnis fördert. Wir denken im Schreiben.
Was mit KI verloren geht
Was also geht verloren, wenn wir künftig noch mehr und vielleicht irgendwann nur noch mit KI-Tools schreiben? Wenn der Schreibprozess sich auf die Eingabe, das Prompten, am Anfang und das Redigieren und Optimieren am Ende der Textproduktion reduziert?
Vielleicht ist die Aufregung auch übertrieben und die neue Technologie eröffnet uns und unserem Gehirn andere, ebenso kreative Räume und neue Möglichkeiten des Lernens und Verstehens.
Hat Textverarbeitung uns unkreativer gemacht?
Ich kann mich noch daran erinnern, was die damals neue Textverarbeitung mit meinem Schreiben gemacht hat. Als es plötzlich möglich wurde, aus dem linearen Schreiben auszubrechen, Worte zu löschen, Sätze, Absätze zu ändern und zu verschieben. Das Schreiben wurde leicht.
Bis heute schreibe ich so: Ich lösche und ersetze ständig Worte, Satzteile, Sätze, Absätze oder füge neue hinzu. Lese den geschriebenen Satz noch mal durch, ändere etwas am Rhythmus oder schmeiße ein Füllwort raus. Fange den nächsten Satz an, lösche Teile davon wieder und so geht es weiter.
Hat uns Textverarbeitung unkreativer gemacht? Nein.
Wie geht es mit meinem Schreiben weiter?
Seit ich selbstständig bin, muss ich mein Schreiben oft umdenken. Ich lerne Verkaufstexte zu schreiben. Das hat mit meinem journalistischen Schreiben wenig zu tun. Aber es schließt sich der Kreis zu den Haikus. Werbetexte sind kurz und prägnant und spielen mit verdichteten, auf ihre Essenz reduzierten Botschaften.
Ich muss persönliche Texte schreiben, wie diesen hier. Das fällt mir oft schwer. Ich bin es gewohnt, hinter den Worten unsichtbar zu bleiben.
Schreiben fühlt sich zurzeit ein bisschen merkwürdig an, in einem Umbruch. In einem Übergangstadium, in dem meine Schreibstimme erst wieder einen Raum finden muss.
Wofür will ich stehen?
Wofür ich stehen will: Für menschliches Schreiben – egal, was Maschinen künftig tun oder lassen. Für Texte, die etwas über das Leben erzählen. Über persönliche Erfahrungen, Geschichten, Gefühle, Fehler und Überzeugungen. In denen die Schreibstimme eines Autors oder einer Autorin zu hören ist.
Vielleicht möchtest du dich mit deiner eigenen Schreibbiografie beschäftigen? Wenn du dich zu meinem Newsletter anmeldest, bekommst du als Dankeschön mein Workbook „Wo dein Schreiben beginnt“.
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