Miriam Meckel und Léa Steinacker tauchen in ihrem Buch „Alles überall auf einmal“ tief ins Thema KI ein. Verständlich und unterhaltsam erklären sie, warum ein Verständnis der generativen Sprachmodelle für jede und jeden von uns wichtig ist. Und machen klar: Welches Szenario auf uns wartet, liegt in unserer eigenen Verantwortung.
Eine Chinesin hat Schwierigkeiten mit ihrer Steuererklärung. Dieser lapidare Satz kündigt auf einem Langstreckenflug der Autorinnen den Film „Everything Everywhere All at Once“ an. Das Werk aus dem Jahr 2022, mit sieben Oscars ausgezeichnet, ist titelgebend für Miriam Meckels und Léa Steinackers Mitte Februar erschienenes Buch „Alles überall auf einmal“. Es bietet einen spannenden Einblick in aktuelle Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz.
Denn anders als der langweilige Teaser im Flieger vermuten lässt, erzählt der Film in einem Affentempo und hart geschnitten eine wahnwitzige Geschichte aus dem Multiversum, einer Welt mit unendlich vielen alternativen Realitäten und Möglichkeiten.
Komplex und überfordernd
Der Film sei eine Metapher für die Zeit, in der wir uns bewegen, konstatieren die Autorinnen. Ein Bild für unsere Überforderung und die Komplexität der aktuellen Veränderungen. Mit KI sind wir zwar schon lange konfrontiert – in den sozialen Medien, auf Netflix, bei Amazon oder in der Medizin – ohne, dass wir bisher darüber groß nachgedacht haben.
Der iPhone-Moment der Künstlichen Intelligenz
Der „iPhone-Moment“ kam aber erst mit der Veröffentlichung von ChatGPT Ende November 2022. Seither sollte jedem oder jeder, der oder die den Chatbot von Open AI oder eines der anderen KI-Tools ausprobiert, dämmern, welches Potenzial die Technologie entfalten kann – und wird.
Und was das für uns, unsere Art zu schreiben, zu denken, zu forschen, zu lernen und ganz allgemein für unsere Arbeit und unser Leben in naher Zukunft bedeuten wird.
Zwischen Faszination und Unsicherheit
Deep Fakes, Halluzinationen, antrainierte Vorurteile, Realitätsverzerrung, Datenschutzprobleme: Es gibt viele Gründe, der neuen Technologie zu misstrauen.
Angst entsteht oft durch Unsicherheit vor etwas Neuem, durch Halbwissen, durch „Sich-gar-nicht-erst-Rantrauen“. Hier setzen Miriam Meckel und Léa Steinacker an: Mit einem Blick in die Geschichte der KI (die mit der Vision einer klugen Frau begann), mit Szenarien, die sowohl Chancen als auch Gefahren der generativen Sprachmodelle aufzeigen. Und einer durchaus kritischen Sicht auf aktuelle Entwicklungen.
Ein Problem: Textinzest
Ein Problem von vielen: Textinzest. Für die großen Sprachmodelle, mit Milliarden Worten trainiert, seien die digital verfügbaren Originaltexte nahezu ausgelesen, erläutern die Autorinnen: Anschließend trainiere generative KI vor allem mit Texten, die sie selbst erschaffen hat.
Ein „Selbstverstärkungsmechanismus, in dem der Remix wächst und die Originalität schrumpft“.
Die Folge: Die Modelle werden immer schlechter darin, gute Inhalte auszuwerfen, machen Fehler – und kollabieren irgendwann.
Chancen und Risiken generativer Sprachmodelle
Die Autorinnen tauchen tief ins Thema ein, betrachten es aus wirtschaftlicher, soziologischer, philosophischer, praktischer und biologischer Perspektive – und öffnen uns damit verständlich, klug und unterhaltsam einen Raum, der uns die komplexen Zusammenhänge nachvollziehen lässt. Und das sei für jede und jeden für uns entscheidend, sagen sie: „Nichtwissen ist (…) die sichere Voraussetzung dafür, von der modernen Dampfmaschine namens KI überrollt zu werden“.
Die Zukunft der Arbeit in Zeiten der KI
Alle Prognosen sagen vorher, dass die generativen Sprachmodelle vor allem die hochbezahlten Jobs von gut ausgebildeten Wissensarbeitern gefährden werden.
Eine Kränkung, die alles, was uns in der Arbeitswelt als sicher galt, in Frage stellt und entwertet.
Darauf muss es Antworten geben, Rahmenbedingungen von der Politik. Aber auch Perspektiven für jeden Einzelnen.
Lesen und schreiben in der digitalen Welt
Was bedeutet es etwa, wenn nachfolgende Generationen das Lesen und Schreiben nach und nach verlernen, weil sie es nicht mehr anwenden müssen? „Wer Schrift erlernt, im Lesen wie im Schreiben, übt sich darin, unsere komplexe Welt zu verstehen“, heißt es im Buch.
Schreiben eröffne, übe und diszipliniere das Denken. Im Umkehrschluss: „Je mehr KI die Welt beschreibt, desto weniger werden wir in der Lage sein, ihre Komplexität (durch Sprache) zu erfassen“.
Die Welt verschwimmt.
KI entzaubert
An vielen Stellen im Buch entzaubern Meckel und Steinacker die neue Technologie, zeigen ihre Grenzen. Ja, wir können jetzt mit Maschinen sprechen. Aber schon der Begriff „Intelligenz“ sei unscharf und führe zu Missverständnissen.
Intelligenz, wie wir sie verstehen, setze ein Bewusstsein voraus. Eine Biologie, Hormone, Gefühle wie Neugier oder Interesse, Erfahrungen. Liebe.
Gefahr oder Chance: Es liegt an uns
Das Buch entlässt uns mit zwei erdachten Szenarien: Einer Dystopie und einem optimistischen Ausblick.
Und mit einem fiktiven Gespräch zwischen den Welten und Epochen: Evelyn (fiktive Waschsalonbesitzerin aus „Everything Everywhere All at Once“), und die (realen) Vordenker der Künstlichen Intelligenz, Ada Lovelace und Alan Turing, diskutieren die Grenzen von und zwischen Menschen und Maschinen.
Wie die Geschichte ausgeht, liegt an uns.
Die Autorinnen
Miriam Meckel ist Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, als Gastprofessorin lehrte sie an der Universität Harvard, in Singapur, New York und in Wien.
Léa Steinacker ist Sozialwissenschaftlerin und Unternehmerin, studierte in Princeton und Harvard und promovierte an der Universität St. Gallen über die sozialen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz.
Quelle: Rowohlt Verlag
Miriam Meckel, Léa Steinacker: Alles überall auf einmal. Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können. Rowohlt, 2024, 400 Seiten, 26 Euro.
Hier gibt es eine Leseprobe
Hallo Eva, über die Jahresrückblicke bin ich auf Deinen Blog und diesen Artikel gestoßen. Ich blogge auch und frage mich, ob das persönliche Schreiben auf einem Blog wie diesem, also ohne Nutzung der KI eine Zukunft haben wird. Die Meinungen gehen da sehr auseinander. Die einen Sagen: Persönlichkeit kann nicht durch KI ersetzt werden. Die anderen sagen: Google wird verschwinden, weil alle nur noch die KI um Antworten bittet, somit sind persönliche Blogs tot. Wie siehst Du das?
Liebe Anna, wie schön, dass du auf meinen Blog gefunden hast ♥️ Danke für deinen Kommentar. Die Entwicklung rast ja so schnell, dass vermutlich niemand zuverlässige Prognosen abgeben kann.
Interessant an deiner Frage ist aber, dass du nicht ChatGPT, sondern mich um eine Einschätzung gebeten hast. Und darin liegt vielleicht die Antwort. Du möchtest lieber etwas von einem Menschen mit eigenen Gefühlen und Standpunkten lesen, von jemandem, der vielleicht Fehler macht, aber „menschliche“ Texte schreibt, die von erlebten Erfahrungen erzählen. Das ist der Reiz und die Qualität eines persönlichen Blogs.
Ich glaube, dass persönliches Schreiben trotz (oder sogar wegen) der Flut an KI-generierten Texten bleibt und selbst geschriebene Texte weiterhin gelesen werden.
Trotzdem werden die Chatbots und neuen Tools unser Schreiben radikal verändern & vielleicht auch neue Formen des Schreibens hervorbringen. Ich habe hier etwas dazu geschrieben. Viele liebe Grüße, Eva