Bitte anschnallen und das Rauchen einstellen. Unsere Zeitkapsel landet in wenigen Sekunden im Jahr 1989. Wir befinden uns in der Mohrenstraße in Ostberlin, im Internationalen Pressezentrum der DDR. Es ist der 9. November und Günter Schabowski wird mit seinem bekannten Halbsatz: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“, das Ende der DDR einläuten.
Sprung in die Zukunft: Das Raum-Zeit-Empfinden ändert sich
Von diesem Moment an ändert sich das Raum-Zeit-Empfinden. So beschreibt es Jens Balzer im ersten Kapitel von „No Limit. Die Neunziger. Das Jahrzehnt der Freiheit“. Die Zeit beginnt zu rasen. Räume öffnen sich. Der endlose Wachtraum, der Dornröschenschlaf, in dem sich die DDR seit Beginn der 1980-er Jahre befunden hat, endet abrupt. Weicht einer neuen Dynamik, einem rasenden Wandel. Ein neues Zeitalter beginnt.
Mauerfall und einstürzende Türme
Und es endet, so Balzer im letzten Kapitel des Epochenritts, am 11. September 2001 in New York City. Am Anfang der Mauerfall, am Ende einstürzende Türme: In diese zeitliche und historische Klammer setzt der 1969 geborene Autor seine lesenswerten Reisen durch die Dekade. No Limit: Der Titel ist angelehnt an den gleichnamigen Song von „2 Unlimited“ aus dem Jahr 1993 und gleichzeitig eine Anspielung auf die fallenden Grenzen in Europa, die das Jahrzehnt politisch und gesellschaftlich umwälzen.
Soundtrack der Freiheit: Techno und Weltschmerz
„Das Jahrzehnt der Freiheit“, wie das Buch im Untertitel heißt, feiert die Individualität, das Arschgeweih, Baywatch und die Spice Girls. Im Hintergrund rauscht der Soundtrack der Epoche: Der kollektive Beat des Techno, Nirvanas Hymnen an den Weltschmerz, Fanta-Vier-Deutschrap, die Synthesizer des Eurodance.
Mehr als nur Nostalgie: Der Preis der Freiheit
Wer ein warmes Bad in Nostalgie erwartet, wird allenfalls bedingt bedient. Freiheit hat ihren Preis: Balzer beschreibt die politischen und gesellschaftspolitischen Verwerfungen in Deutschland, Europa und weltweit ausführlich und lässt uns Leser auch an seiner Haltung dazu teilhaben.
Die Neunziger wirken bis in die Gegenwart hinein
Wer dabei war, wird sich dennoch gerne an all das erinnern lassen, was in den 90ern begann und bis in die Gegenwart hineinwirkt: Optimierungskult und Schönheitswahn, Privatfernsehen, Serien, Mobiltelefone und das World Wide Web.
Paradigmenwechsel im Schreiben: Befreiung aus dem Linearen
Für Schreibende spannend: In Kapitel 11 zeichnet Balzer nach, wie die damals neuen Textverarbeitungssysteme unser bis dahin lineares, analoges Schreiben revolutionierten. Musste bislang ein Text bis ins Kleinste vorgeplant oder Satz für Satz konzentriert, logisch-linear und der Reihenfolge nach auf der Schreibmaschine heruntergetippt werden, hält nun kreatives Chaos Einzug in den Schreibprozess. Fortan lassen sich problemlos Buchstaben, Worte, Sätze und ganze Absätze verschieben, löschen, verändern, neu zusammensetzen. Texten hieß zuvor: Linear denken. Aber unser Denken fühle sich, vermutlich, in nicht-linearen Formen viel wohler, schreibt Balzer. Die Neunziger haben unser Schreiben und Denken aus dem Gefängnis der Linearität befreit. Das Jahrzehnt der Freiheit und der fallenden Grenzen bekommt für Schreibende damit eine ganz eigene Bedeutung.
Fazit: Nicht nur für Zeitzeugen
„No Limit“ ist ein dichter und sprachlich kluger kulturhistorischer Abriss eines Jahrzehntes, den ich, wie die beiden Vorgänger – „High Energy“ über die Achtziger und „Das entfesselte Jahrzehnt“ (Siebziger) – gerne gelesen habe. Für alle, die die Neunziger bewusst erlebt haben, fügt er historische und kulturelle Linien und Muster zu einem lesenswerten, plausiblen Ganzen zusammen. Für alle anderen ist er eine Zeitkapsel-Reise in eine vielleicht noch unentdeckte Vergangenheit.
Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger. Das Jahrzehnt der Freitheit. 384 Seiten. Rowohlt, 2023
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